
February 10, 2022
Verdachtsdiagnose – Diplopie aufgrund einer neurologischen Ursache
Einleitung:
Eine Verdachtsdiagnose ergibt sich aus einem phathologischem Systemkomplex.Erkenntnistheoretisch handelt es sich dabei um einen Verdacht, wie er sich ausd er momentanen Erfahrung ergibt. Wenn sich die Erfahrung ändert, dann sollte sich auch die Vorstellung in Bezug auf die zu Grunde liegend gedachte Ursache der klinischen Erscheinung ändern.
Anamnese:
Binokularstatus (Maddox)
– 8 Prismendioptrien Basis oben: OD – Verkippung der horizontalen Linie
– OD: circa 8° Exzykloduktion
– OS: circa 10° Inzykloduktion
Pupillenreaktionstest
– beide Augen (OU): 6 mm bei Dunkelheit, 3 mm in Helligkeit
– kein relativer afferenter Pupillendefekt (RAPD)- (Swinging-Flashlight-Test)
Augeninnendruck (IOP) 9.30Uhr
– OD: 11 mm/Hg – OS: 12 mm/Hg
Konfrontationsgesichtsfeld – vollständig, ohne Ausfälle: OU
Spaltlampenbefund
– Augenlider / Adnexe: normal OU
– Bindehaut und Lederhaut: klar / reizfrei: OU
– Hornhaut: klar OU
– Iris: normal OU
– Augenlinse: klar OU
– Kammerwinkel: OD: 37° OS: 33°
– Pachymetrie(nm): OD: 555 OS: 559
– Vorderkammertiefe(mm): OD: 2,79 OS: 2,71

Abb.1: rechtes Auge - Vorderkammer – Wave analyzer

Abb.2: linkes Auge - Vorderkammer – Wave Analyzer
Augenhintergrund (Abb. 3/4)
– Exzycloduktion OD, Inzykloduktion OS
– Glaskörper: normal OU
– Papille: normal OU
– Cup to Disc Ratio: 0.2 OU
– Makula: normal OU
– Gefäße: normal OU
– Peripherie: normal OU

Abb.3: rechtes Auge - Exzykloduktion

Abb.4: linkes Auge - Inzykloduktion
Diagnose:
Wir fanden eine Kopfneigung zur rechten Schulter, eine Rechts- unter links Schielstellung, sowie eine Rechtsverrollung beider Bulbi. Das Kind gab eine Verkippung der subjektiven Vertikalen nach rechts an. Durch Okklusion desr echten oder linken Auges konnte die Kopfneigung nicht aufgehoben werden. Bei der ophthalmoskopischen Beobachtung war keine Stauungspapille, aber eine veränderte Beziehung zwischen Makula und Papille zu erkennen (Verrollung). Aufgrund dieser klassischen Zeichen musste ein raumfordernder Prozess durch eine neuroophthalmologische Untersuchung ausgeschlossen werden. Die Diagnose der Klinik vor Ort lautete: „ocular tilt reaction“ aufgrund eines Hirnstammtumor. Entsprechend zeigte sich ein Medulloblastom im unteren Hirnstamm auf der rechten Seite (6). Bei einem Tumor im oberen Hirnstamm wäre eine gekreuzte Symptomatik, also eine „oculartilt reaction“ nach links zu erwarten gewesen.
Behandlung:
Das Kind wurde einer mehrfachen Bestrahlung und Chemotherapie unterzogen. Nach Abschluss der Therapie hat sich der Befund wesentlich verbessert.
Diskussion:
Hirntumoren bei Kindern sind nach der akuten Leukämie die zweithäufigste, bösartige Erkrankung. Das Medulloblastom (von den Nervenzellen ausgehender Hirntumor) tritt bei Kindern in der ersten Lebensdekade gehäuft auf. Es kann sich in Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Verhaltensveränderung und vegetative Störungen wie Atem- oder Blutdruckveränderungen zeigen. Ein besonderer Hinweis ist das plötzliche, explosionsartige Erbrechen, vor allem bei schnellen Kopfbewegungen (zentrales Erbrechen).(3)
Die „ocular tilt reaction“ oder auch Hertwig-Magendie-Syndrom bezeichnet eine Störung der Blickmotorik mit Achsabweichung und Zyklorotation des Augapfels.(1) Als klinisches Zeichen dieser zentral-vestibulären Tonusdifferenz in der Roll-Ebene,
zeigt sich in den folgenden vier Komponenten: Kopfneigung, Abweichung der subjektiven visuellen Vertikalen als sensitivstes Zeichen, Skewdeviation (pränukleäre vertikale Schielstellung) und Zykloduktion( gleichsinnige Bulbusverrollung).(2)
Oft liegt eine beidseitige, gleichsinnige Verrollung vor. Dabei ist oft das tiefer stehende Auge nach innen und das höherstehende Auge nach außen verrollt. Die Abweichung der beiden Augen in der Vertikalebene kann in allen Blickrichtungen gleich (konkomitant),aber auch ungleich (inkomitant) sein. Deshalb handelt es sich nicht um ein Lähmungsschielen. Es treten Doppelbilder rauf, die vertikal versetzt, aber auch verkippt sein können. Der Kunde hält seinen Kopf zur Schulter geneigt.(5) Die ocular tilt reaction stellt ein häufiges Symptom bei Hirnstammläsionen dar und ist in der Regel mit weiteren zentralen Okulomotorikstörungen kombiniert.(2) In seltenen Fällen tritt diese Symptomatik auch bei einer Schädigung des gleichseitigen Vestibularorgans (Labyrinth) auf, das bei der Regulierung der Körperhaltung eine führende Rolle spielt.(1)
Die „ocular tilt reaction“ ist durch Unterbrechung von supranucleären Bahnen zu erklären, die vom Otolithenapparat ausgehen, also von dem auf Linearbeschleunigung ansprechenden Teil des Gleichgewichtsorgans. In unserem Fall sind die Bahnen betroffen, welche den rechten M. rectus superiorund den linken M. obliquus inferior aktivieren sollten. Die Kopfneigung erklärt sich daher, dass die Otolithenimpulse bestimmte Halsmuskeln nicht erreichen, und die Verkippung der subjektiven Vertikalen beruht darauf, dass dieProjektion zur vestibulären Hirnrinde gestört ist.5 Die subjektive Vertikale korreliert nichtimmer streng mit der Augentorsion. So gibt es bei akuten Läsionen zentraler Otolithen-Projektionen im Hirnstamm plötzliches illusionäres Verkehrt- oder Schrägsehen (45–90°), obwohl die Augenanatomie nicht mehr als etwa 25°Verrollen zulässt.(4)
Fazit:
Die Kopfneigung zur Schulter ist bei der ocular tilt reaction kein Kompensationsmechanismus zur Vermeidung von Doppelbildern, wie bei der Trochlearisparese, sondern ein Ausfallssymptom. Entsprechend bleibt die Kopfneigung bei Okklusion des rechten oder linken Auges bestehen.
Durch die enge Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten, entstand für den jungen Kunden und dessen Eltern, ein multiprofessionelles, interdisziplinäres Team. Unsere Ergebnisse der optometrischen Kontrolle berichteten wir in einer Fallkonferenz.
Literatur
1. Hanser,Hartwig, Lexikon der Neurowissenschaft, SpektrumAkademischer Verlag, 2005
2. Klinisches Monatsblatt Augenheilkunde 2007; 224 – KV47
3. Kanski: Klinische Ophthalmologie, Urban & FischerVerlag, 6. Auflage, 2008
4. D.Straumann, R. M. Müri und K. Hess; Neurootologieund Neuroophthalmologie, Vertigocenter, Zürich
5.Wikipedia
6. Patientenunterlagen
Bildquellen: Randy Freitag
Autor:

Randy Freitag – GermanEyeCare – Hoffmannoptik e.K. – Augenoptisches Kompetenzzentrum im Markgräflerland EurOptom, Augenoptiker-Meister, Heilpraktiker veröffentlicht: Deutsche Optikerzeitung - 5/2016